Ilse Aichinger: Bound

Film: » Bound «

(zur deutschen Fassung)

1
He awoke in the sunshine. But it made him close his eyes again; the light flowed down the slope, formed small streams, swept up swarms of mosquitoes, which flew low over his head, circled, tried to land and were displaced by new swarms. It was when he moved to shoo them away that he realized he was tied up.

His chances all lay in the amount of free play in the cord. He propped his elbows up on the ground to test it. As soon as it tightened he stopped, and tried it again more cautiously. If he had been able to reach the branches over his head he’d have used them to pull himself up, but he couldn’t reach them.

2
In the early morning light, the animal tamer, whose circus was located on the field adjoining the village, saw the bound man coming down the path, gazing thoughtfully at the ground. He watched as the man stopped and reached for something. He bent his knees, stretched out one arm to keep his balance, and with the other picked up an empty wine bottle, then straightened up again. He moved slowly, to avoid being cut by the cord, but to the circus owner it seemed like the voluntary limiting of great speed. The astonishing gracefulness of the movement enchanted him, and as the man looked around for a stone on which to break the bottle to cut the cord, the animal tamer walked across the field to him.

» Ladies and gentlemen, we proudly present The Bound Man! « Even his opening movements drew loud cheers from the crowd and caused blood to rush to the cheeks of the animal tamer. The man rose to his feet. His own surprise was like that of a four-legged animal standing on its hind legs. The spectators found it as astounding as if they were watching a bird that voluntarily remained earthbound.

His fame grew from place to place, but his movements never changed. He had to keep practicing them during the day to keep the slack in the cord. By remaining within its limitations, it freed him and because it didn't confine him, it spurred him on and gave his leaps and bounds purpose.

3
Nobody knew how hard it was for the circus owner to keep the man with them or how often the man said he had had enough and wanted to move on. Later, he stopped talking about leaving. When the owner’s wife brought him his food by the river and asked him how long he would stay, he did not answer. She thought he had gotten used to – not being tied up – but not forgetting for a moment that he was tied up, and that that was all the cord would permit. She asked if it didn’t seem ludicrous to him to remain tied up, but he responded: no, he didn’t. A circus had such a large entourage, elephants, tigers, clowns – why not a man who was bound?

There were times he told her he felt as if he weren’t tied up at all. She responded that he wouldn’t ever have to feel bound if he would simply be willing to get rid of the cord. That was always an option, he replied.

4
One day a young wolf escaped from the circus. The owner kept quiet about it, to avoid spreading alarm, but the wolf soon began raiding the surrounding pastures and preying on the cattle. At first, people thought that the wolf had been driven to these parts by an impending severe winter. But soon they began to suspect the circus. The circus people offered the local mayors their help in the hunt, but all their efforts were to no avail.

He felt a slight elation at having lost the deadly advantage of free limbs that causes men to lose. The freedom he felt was having to adapt every twist and turn to the cord that bound him – it was the freedom of wild flowers swaying in the evening breeze.

5
The crowd demanded that he repeat his battle with the wolf. He said that such a thing had no place in a circus performance and the owner declared that he did not keep animals to have them slaughtered in front of an audience. But they stormed the ring and surged against the cages.

So, he had not been sufficiently on his guard against those who wanted to free him and their compassion. Had he lain too long on the riverbank? If only she had cut the cord at any other time.

(From Ilse Aichinger’s 1953 short story. Excerpt for the film » Bound «, English by Chris Doherty.)



Ilse Aichinger: Der Gefesselte

1
Er erwachte in der Sonne. Ihr Licht fiel auf sein Gesicht, so daß er die Augen wieder schließen mußte; es strömte ungehindert die Böschung hinab, sammelte sich zu Bächen und riß Schwärme von Mücken mit, die tief über seine Stirne hinwegflogen, kreisten, zu landen suchten und von neuen Schwärmen überholt wurden. Als er sie verscheuchen wollte, bemerkte er, daß er gefesselt war. Eine dünne gedrehte Schnur schnitt in seine Arme.

Alle Möglichkeiten lagen in dem Spielraum der Fesselung. Er stützte die Ellbogen auf die Erde und beobachtete das Spielen der Schnur. Sobald sie spannte, gab er nach und versuchte es mit größerer Vorsicht wieder. Wenn er die Zweige über seinem Kopf erreicht hätte, würde er sich an ihnen hochgezogen haben, aber er erreichte sie nicht.

2
Im Morgenlicht beobachtete der Tierbändiger, der mit seinem Zirkus auf der Wiese vor dem Dorf lagerte, den Gefesselten, wie er, nachdenklich den Blick zu Boden gekehrt, den Weg daherkam. Er sah, wie er stehenblieb und nach etwas griff. Er bog die Knie ab, hielt einen Arm ausgestreckt, um sich im Gleichgewicht zu erhalten, hob mit dem anderen eine leere Weinflasche vom Boden, richtete sich auf und schwang sie hoch. Er bewegte sich langsam, um nicht wieder von der Schnur geschnitten zu werden, aber dem Zirkusbesitzer schien es wie die freiwillige Beschränkung einer großen Geschwindigkeit. Die unbegreifliche Anmut der Bewegung entzückte ihn, und während der Gefesselte noch nach einem Stein Ausschau hielt, an dem er die Flasche zerschellen wollte, um mit dem abgesplitterten Hals die Schnur zu durchtrennen, kam der Tierbändiger über die Wiese auf ihn zu.

» Sie sehen den Gefesselten! « Schon seine ersten Bewegungen lösten einen Jubel aus, der dem Tierbändiger am Rand der Arena vor Erregung das Blut in die Wangen trieb. Der Gefesselte richtete sich auf. Seine eigene Überraschung war immer wieder die eines Vierfüßigen, der sich erhebt. Er kniete, stand, sprang und schlug Räder. Das Staunen der Zuschauer galt einem Vogel, der freiwillig auf der Erde bleibt und sich im Ansatz beschränkt.

Sein Ruhm wuchs von Ort zu Ort, aber seine Bewegungen blieben immer die gleichen, wenige und im Grunde gewöhnliche Bewegungen, die er untertags in dem halbdunklen Zelt immer wieder und wieder üben mußte, um die Leichtigkeit in der Fessel zu behalten. Indem er ganz in ihr blieb, wurde er ihrer auch ledig, und weil sie ihn nicht einschloß, beflügelte sie ihn und gab seinen Sprüngen Richtung.

3
Niemand wußte, wie schwer es dem Zirkusbesitzer wurde, den Gefesselten zu halten, wie oft der Gefesselte erklärte, er hätte jetzt genug, er wolle gehen, es sei schon zuviel von dem Sommer vertan. Später sprach er nicht mehr davon. Wenn die Frau ihm das Essen an den Fluß brachte und ihn fragte, wie lange er noch mit ihnen ziehen wolle, gab er keine Antwort. Sie glaubte, daß er sich zwar nicht an die Fessel gewöhnt hätte, aber daran, sie keinen Augenblick zu vergessen - die einzige Gewöhnung, die die Fessel zuließ. Sie fragte ihn, ob es ihm nicht lächerlich scheine, gefesselt zu bleiben, aber er erwiderte, nein, lächerlich scheine es ihm nicht. Es zögen so viele mit dem Zirkus, Elefanten, Tiger und Spaßmacher, weshalb sollte nicht auch ein Gefesselter mitziehen?

Manches Mal, sagte er ihr, fühle er sich, als wäre er nicht gefesselt. Sie antwortete, daß er sich nie gefesselt fühlen müsse, wenn er nur bereit wäre, die Schnur abzunehmen. Er sagte darauf, das stünde ihm immer frei.

4
An einem dieser Tage entkam dem Zirkusbesitzer ein junger Wolf. Er verschwieg es, um niemanden zu erschrecken, aber der Wolf begann bald in die Viehweiden der umliegenden Orte einzubrechen. Obwohl man zuerst dachte, daß ihn die Witterung eines strengen Winters von sehr weit hergetrieben hätte, wurde doch auch der Verdacht gegen den Zirkus wach. Der Zirkusbesitzer hatte seine Leute einweihen müssen, und es konnte nicht mehr lange geheim bleiben, woher der Wolf kam. Die Zirkusleute boten den Bürgermeistern der nahen Orte ihre Hilfe bei der Jagd an, aber alle Jagden blieben vergeblich.

Wie in einem leichten Rausch fühlte er, daß er die tödliche Überlegenheit der freien Glieder verloren hatte, die Menschen unterliegen läßt. Seine Freiheit in diesem Kampf war, jede Beugung seiner Glieder der Fessel anzugleichen, die Freiheit der Panther, der Wölfe und der wilden Blüten, die im Abendwind schwanken.

5
Sie verlangten, daß er den Wolfskampf wiederhole. Der Gefesselte erklärte, daß ein solcher Kampf nicht die Sache einer Zirkusvorstellung sei, und der Zirkusbesitzer rief, er hielte seine Tiere nicht, um sie vor den Augen der Zuschauer erschlagen zu lassen. Aber sie hatten schon die Umfassung gestürmt und drängten gegen die Käfige.

War er doch nicht genügend auf der Hut gewesen vor seinen Befreiern, vor diesem Mitleid, das ihn einwiegen wollte? War er zu lange am Fluß gelegen? Hätte sie die Schnur doch lieber in jedem anderen Augenblick durchschnitten als gerade in diesem.

(Aus Ilse Aichingers Erzählung von 1953. Gekürzt für den Film » Der Gefesselte «)

Film: » Bound «