Wilhelm Furtwängler: On Music and Love

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Love
One has to immerse oneself in a work of art, it’s a self-contained world, a world unto itself. This process is called love. It is the opposite of evaluating or comparing. It only sees the incomparable, the unique. It is this love, provoked by the work again and again, that enables us to grasp the work as a whole. And the whole is nothing other than love. Every part can be grasped by the intellect, but the whole can only be understood with this kind of love.

Cadenza
The basis of the tonality is the cadenza. A certain space is encompassed by its simplest steps, one to the dominant and then to the sub-dominant and finally back to the tonic. These steps not only make a connection between one chord and the adjacent one but also – and this is crucial – they also create a greater, superior context that connects together all the links in the cadenza from its starting-off point to its end. This superior context, this space that the cadenza creates, is nothing less than the decisive element: the music can take shape, it has found a point from which it can depart and an end that it can reach. A fugue such as Bach wrote or a movement from a symphony such as Beethoven wrote represent literally a cadenza extended into gigantic proportions.

Interpretation
Thus a piece of tonal music offers something like a view of the sea: there are smaller waves on top of big ones, and smaller ones again on top of them, and so on. The wave is here the same as the tension in a cadenza, large ones and ever-smaller ones laid on top of one another. We are therefore dealing here with a system of independent forces that take their effect independently of our desires and wishes. It is not until our desire for expression becomes one with the desire for expression of these forces that the work of art can arise.

Atonality
Accompanying an atonal musician hand-in-hand is like going through a thick forest. Along the path, weird and wonderful flowers and plants draw our attention and one does not know oneself where one has come from or where one is going. The listener is gripped by the feeling of being exposed to the power of elemental existence. There is admittedly no denying that a certain note has thus been struck in the modern human being’s feeling for life.

Tonality
In contrast to that the cadenza arises in tonal music on the firm foundations of the triad. The tension grows out of the release of tension in order to grasp the diversity of life’s forms and ultimately, according to the law that governs it, to return to the starting-off point, the so-called tonic. The more tranquil and complete the release of tension is the more powerful are the tensions that become possible on its basis. Indeed, it is only through the corresponding release of tension that must precede it that any kind of tension is possible in the first place and can be recovered afterwards. Every great piece of tonal music, therefore, despite all the excitement that can be driven to the limit of human comprehension, exudes a deep and unshakeable tranquillity that permeates everything and everyone like a memory of the majesty of God.

Love
For the historian, phenomena are significant only insofar as they are comparable; for the artist, insofar as they are incomparable. The artist places us – each and every one of us – directly in front of the work, forcing us to confront it as he confronts us; he does not want control, but surrender. If the historian is the man of ordering understanding, the artist is the man of love.

(Compiled by Jan Schmidt-Garre from Furtwängler’s essays and letters)



Wilhelm Furtwängler über Musik und Liebe

Liebe
Auf ein Kunstwerk muss man sich einstellen, es ist eine Welt für sich. Sich-Einstellen heißt Liebe. Sie ist das Gegenteil vom Vergleichen, sie sieht das Unvergleichbare, Einzigartige. Die vom Werk immer wieder neu erschütterte und ergriffene Liebe schafft die Bedingungen für die Erfassung des Ganzen im Kunstwerk, denn dies Ganze ist nichts als Liebe. Jeder einzelne Teil kann mit dem Intellekt, das Ganze aber immer nur mit dem lebendigen Liebesgefühl erfasst werden.

Kadenz
Die Grundlage der Tonalität ist die Kadenz. Mit ihren einfachsten Schritten, dem zur Ober-, dann zur Unterdominante und schließlich zurück zur Tonika, wird ein bestimmter Raum durchmessen. Bei diesen Schritten hat also nicht nur ein Akkord Zusammenhang mit dem ihm benachbarten, sondern – und das ist das Entscheidende – es entsteht ein großer übergeordneter Zusammenhang, der alle Glieder der Kadenz von ihrem Ausgangspunkt bis zu ihrem Ende miteinander verbindet. Mit diesem übergeordneten Zusammenhang, mit diesem Raum, den die Kadenz schafft, ist daher nicht weniger als das Entscheidende gewonnen: die Musik kann Gestalt gewinnen. Sie hat einen Punkt gefunden, von dem sie ausgehen kann, ein Ende, das sie erreichen kann. Eine Bachsche Fuge, ein Beethovenscher Sinfoniesatz stellen wortwörtlich eine ins Riesenhafte erweiterte Kadenz dar.

Interpretation
Ein tonales Musikstück bietet solcherweise etwa den Anblick des Meeres: Auf großen Wellen sind kleinere und auf diesen wiederum kleinere undsofort. Welle ist hier gleich Kadenzspannung, große und immer kleinere übereinandergelagert. Wir haben es demnach mit einem System von selbständigen Kräften zu tun, die sich unabhängig von unserem Wollen und Wünschen auswirken. Erst durch das Zusammenfallen und Einswerden unseres Ausdruckswillens mit dem Ausdruckswillen dieser Kräfte entsteht das Kunstwerk.

Atonalität
An der Hand des atonalen Musikers geht man wie durch einen dichten Wald. Am Wege ziehen die merkwürdigsten Blumen und Pflanzen die Aufmerksamkeit auf sich. Selber aber weiß man nicht, woher man kommt und wohin man geht. Ein Gefühl des Ausgeliefertseins an die Macht elementaren Seins ergreift den Hörer. Freilich ist nicht zu leugnen, dass hiermit ein bestimmter Ton im Lebensgefühl des modernen Menschen angeschlagen ist.

Tonalität
Auf dem festen Grunde des Dreiklangs hingegen erhebt sich in der tonalen Musik die Kadenz. Aus der Ent-Spannung erwächst die Spannung, um die Vielgestalt des Lebens zu erfassen und schließlich – nach dem Gesetz, nach dem sie angetreten – wieder zum Ausgangspunkt, zur sogenannten Tonika zurückzukehren. Je ruhevoller, je vollständiger die Entspannung, desto gewaltiger die Spannungen, die auf ihrem Grund möglich werden. Ja, nur durch die korrespondierende Entspannung, die ihr vorauszugehen hat, wird jede Art von Spannung erst möglich und kann sie wieder zurückfinden. Jedes große tonale Musikstück strömt deshalb, bei aller Erregung, die bis an die Grenze des für Menschen Fasslichen getrieben sein kann, eine tiefe und unerschütterliche Ruhe aus, die alles und jedes durchdringt – wie eine Erinnerung an die Majestät Gottes.

Liebe
Für den Historiker sind die Erscheinungen nur insoweit von Bedeutung, als sie vergleichbar sind, für den Künstler, als sie unvergleichbar sind. Der Künstler stellt uns – und zwar jeden Einzelnen von uns – dem Werk unmittelbar gegenüber, zwingt uns, sich ihm zu stellen, so wie er sich uns stellt; er will nicht Beherrschung, sondern Hingabe. Ist der Historiker der Mann des ordnenden Verstehens, so der Künstler der Mann der – Liebe.

(Wilhelm Furtwängler: Aufzeichnungen. Wiesbaden, 1958; Gespräche über Musik. Wiesbaden, 1979)

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